„Auf gute Freunde“ – Von Neonazi-Dorfcliquen zur AfD Marburg-Biedenkopf
Seit ihrer Gründung tummeln sich in der AfD Marburg-Biedenkopf Personen, die ihre politische Sozialisation um die Jahrtausendwende in extrem rechten Dorfcliquen im hessischen Hinterland erfahren haben. Dieser Weg führte so manchen Neonazi auch in den Kreistag.
Im Hinterland gibt es seit Jahrzehnten eine verankerte Neonaziszene die bis in den Lahn-Dill-Kreis verwoben ist. Auch der Nachbarlandkreis Vogelsberg war von den 1980er bis in die 2000er Jahre immer wieder als Region aufgefallen, in der extrem rechte Akteure Treffen abhielten. Anfang der 2000er Jahre hatte sich in Kirtorf ein sicherer Veranstaltungsort für Rechtsrockkonzerte entwickelt, was den Ort überregional für die Neonaziszenen relevant werden lies. Konzerte, wie z.B. im Jahr 2002 von der Band „Kategorie C“ vor etwa 600 Personen, waren für die subkulturell orientierte Neonaziszene auch regional prägend. Sie waren Teil einer neonazistischen Erlebniswelt, die bis heute ihre Spuren hinterlassen hat. Führende Kader, die dort ihre politische Sozialisation erfahren haben, sind bis heute aktiv. Eine weitere Fassette dieser Erlebniswelt waren Demonstrationen. Etwa zur selben Zeit organisierte das „Aktionsbündnis Mittelhessen“ immer wieder Demonstrationen im Landkreis Marburg Biedenkopf. Im Aktionsbündnis kamen die Gruppen „Kameradschaft Kirtorf“ und „Berserker Kirtorf“ zusammen, die die Rechtsrockkonzerte im Vogelsberg organisierten, sowie die Neonazis um Manuel Mann, damals NPD-nah. Der Erfolg hielt sich jedoch in Grenzen, eine Demonstration am 21. Februar 2004 ging „als »Hölle von Gladenbach« in die Internetforen der freien Kameradschaften ein. (…) »im gesamten Stadtgebiet, quer durch die Vorgärten, Felder und Grundstücke, wurden Rechtsextreme zum Teil regelrecht gejagt«, wie die Frankfurter Rundschau schrieb.“ (Jungle World April 2004). Insgesamt gab es in diesem Zeitraum vier solcher Aufmärsche in Gladenbach und Marburg, bei denen auch Protagonisten aus dem Hinterland teilnahmen.
Von den Neonazi-Banden ging immer ein Gefährdungspotenzial durch rechte Gewalt aus. Treffen kann es alle Menschen, die nicht in ihr Weltbild passen. Ein Fall, der überregional Aufsehen erregte, ereignete sich im Jahr 2008 im Dautphetaler Ortsteil Wilhelmshütte. Dort kam es zu einem rassistisch motivierten Brandanschlag auf ein Wohnhaus (taz 1, taz 2).
Dies sind einige Eckdaten der politischen Sozialisation extrem rechter Jugendcliquen in der Region und die daraus folgenden Konsequenzen. Retrospektiv fällt dabei die Gemeinde Steffenberg und Umgebung ins Auge. Deshalb lohnt sich ein Blick auf die aktiven Neonazis in Steffenberg aus dieser Zeit und bis heute. Auch wenn dies für viele Dörfer typisch ist, ist auch hier augenscheinlich, dass die Neonaziszene durch Verwandtschaftsverhältnisse geprägt ist. Vor 20 Jahren konnten viele extrem rechte Jugendliche im klassischen Neonazismus verortet werden; in ihrer politischen Sozialisation spielt die Musik eine zentrale Rolle. Was mit den „Böhsen Onkelz“ begann, führt über Bands wie „Kategorie C“, „Sleipnir“, „Sturm 18“ und weiteren zu einem umfassend neonazistischen Weltbild. Diese Sozialisation fand in vielen Fällen unwidersprochen statt, Konfrontationen oder Konsequenzen aus der Weltbild waren vielen fremd. Sie hören gemeinsam Musik, besuchen entsprechende Veranstaltungen sowie Demonstrationen und bilden ein Milieu heraus, aus dem immer wieder rechte Gewalt hervorgeht, da dies die logische Konsequenz ihrer Ideologie ist.
Bereits um 2010 wurde z.B. Patrick Thierbach aus Steffenberg von Antifas geoutet. Auch Torsten Debus, ein vom Alkoholismus gezeichneter Neonazi-Hooligan des Hamburger SV, kommt aus der Region und versammelte beim Fußball immer wieder junge Rechte um sich. Um ihn herum existiert ein Kreis von HSV-Fans, zu dem auch Patrick Debus und Björn Reinberger gehören. Während Reinberger Mitte der 2010er Jahre noch Adolf Hitler in sozialen Medien mit „Gefällt mir“-Angaben versah, liked er heute die AfD. Patrick Debus und Björn Reinberger sind in der Feuerwehr Niederhörlen als Oberfeuerwehrmann und Löschmeister aktiv.
Ebenfalls im hessischen Hinterland aufgewachsen, sind die Brüder Patrick und Florian Sämann. Beide wurden am 1. Mai 2009 in Dortmund festgenommen, nachdem sie gemeinsam mit anderen Neonazis eine DGB-Veranstaltung angegriffen hatten. Im Mai 2020 beteiligten sich mindestens fünf Neonazis in Marburg an einer Kundgebung gegen die Coronabeschränkungen. Begleitet wurden die Sämann-Brüder dabei unter anderem von einem Mitglied des hessischen Landesvorstands der Partei „Die Rechte“, Tim Schmerer, sowie einem weiteren Steffenberger Neonazi, Ulrich Meißner, der 2007 auf die „Jahresparty“ der «Hammerskins Westmark» reiste, wie Exif Recherche berichtete.
Als im Jahr 2013 die AfD gegründet wird, gibt sie vielen Akteuren der extremen Rechten eine neue organisatorische Perspektive. Auch im Landkreis Marburg Biedenkopf treten Personen in die AfD ein, die ihre politische Sozialisation in der hier umrissenen Zeit erfahren haben.
Am 20.02.2014 wurde in Steffenberg-Niedereisenhausen der erste AfD-Ortsverband im Kreisverband Marburg-Biedenkopf gegründet: Ortssprecher wurde Patrick Debus, Schatzmeister Julian Schmidt und Beisitzerin Jessica Herrmann. In den folgenden Jahren werden Jessica Herrmann, ab 2015 Jessica Schmidt, ihr Ehemann Julian Schmidt und sein Bruder Sebastian Schmidt die Führung in der AfD Marburg-Biedenkopf übernehmen.
Familie Schmidt aus Steffenberg
Sebastian Schmidt trat schon früh in die AfD ein, seit 2016 ist er Kreistagsmitglied und wurde 2021 wiedergewählt. 2018 wurde er zum stellvertretendem Sprecher des AfD-Ortsverbands Hinterland ernannt; Sprecher wurde sein Bruder Julian Schmidt. 2019 war Sebastian Schmidt zudem Beisitzer im Kreisvorstand und war bei den Landtagswahlen 2023 Nachrückkandidat.
Sebastian Schmidt ist ein Neonazi. Er posierte Ende der 2000er Jahre in sozialen Medien mit einem „Sturm 18“-Shirt. Diesen Namen nutzte unter anderem eine Rechtsrock-Band, aber auch ein Naziversandhandel und eine Kassler Kameradschaft. Die Message hinter dem Namen ist immer dieselbe, die 18 steht für Adolf Hitler. Sein in den sozialen Medien eigens beschriebener Musikgeschmack lässt tief blicken: Rechtsrockmusik, u.a. „Rock against Communism“, „Kategorie C“ uvm. Außerdem war er zu dieser Zeit auf einer Online-Datingplattform aktiv, auf der er Mitglied in Gruppen wie „Schweiz Arische Freundschaft“ war. Welche „passende Frau“ (wie er selbst sagt) er dort zu finden hoffte, liegt auf der Hand. Auch abseits sozialer Medien umgibt Sebastian Schmidt sich mit anderen Steffenberger Neonazis, die nicht vor Gewalt zurückschrecken. So pflegt er seit seiner Jugend Kontakte zu den Sämann-Brüdern, Patrick Thierbach und deren Kreise.
Sebastian und sein jüngerer Bruder Julian Schmidt, der 2013 in die AfD eingetreten ist und ein Jahr später maßgeblich an der Gründung des AfD-Ortsverbands Hinterland beteiligt war, fallen immer wieder durch ihr gemeinsames Agieren in politischen Angelegenheiten auf. Auch wenn 2013 noch der Posten des Sprechers des Ortsverbands Hinterland von Patrick Debus bekleidet wurde, der sich in den bereits erwähnten extrem rechten Hamburger Fankreisen um Thorsten Debus und Björn Rheinberger bewegt, strebten die Brüder Schmidt ab 2016 immer mehr Richtung Führungskader der AfD im Landkreis.
Seit 2016 sitzt Julian im Kreistag Marburg-Biedenkopf für die AfD und fungiert als ihr Pressesprecher. 2017 gründete er die „Junge Alternative“ im Kreis Marburg-Biedenkopf gemeinsam mit Nils Grunemann, der Mitglied der Marburger Naziburschenschaft Germania ist. 2018 wurde Julian Schmidt schließlich zum Sprecher des AfD-Ortsverbands Hinterland gewählt – als Stellvertreter an seiner Seite: sein Bruder Sebastian Schmidt. Bei den Bundestagswahlen 2017 und 2021 trat Julian als Direktkandidat an. Beruflich kam er bei seinem Parteikollegen, dem Bundestagsabgeordneten Uwe Schulz, als Büroleiter unter.
Julian Schmidt mietet spätestens seit 2023 den Raum für die AfD-Geschäftsstelle in Gönnern an und stellt damit der extremen Rechten im Hinterland eine Immobilie zur Verfügung. 2024 wurde er zudem im Amt des Kreissprechers bestätigt.
Zu Julian Schmidts sonstigen Aktivitäten und geschichtsrevisionistischen Auffassungen wurden schon folgende Artikel veröffentlicht: Hessische Landesliste der AfD: Von Konzertausflügen mit Neonazis, Begeisterung für Faschisten und Applaus für Antisemiten und Rechts liegengelassen.
Wie für Sebastian gilt auch für Jessica und Julian Schmidt, dass sich ihr soziales Umfeld aus Neonazis zusammensetzt. So besuchten Jessica und Julian 2016 gemeinsam mit Torsten Debus und Björn Reinberger ein „Böhse Onkelz“-Konzert.
Die hier veröffentlichten Fotos der Familie Schmidt belegen, dass sie sich in extrem rechten und neonazistischen Kreisen im Hinterland bewegen und diese als ihr soziales Umfeld und ihre Freunde begreifen. Die AfD Marburg-Biedenkopf hat dem Neonazi Sebastian Schmidt den Weg in den Kreistag ermöglicht und zusammen mit seinem Bruder Julian Schmidt und dessen Frau Jessica führt er die lokale AfD an. In der von ihnen zur Verfügung gestellten Immobilie der AfD-Geschäftsstelle Gönnern geben sich extrem Rechte und Neonazis die Klinke in die Hand.